Lucija Stojević ist eine in Kroatien geborene Regisseurin und Produzentin, die in Barcelona lebt. Ihr Dokumentarfilm La Chana (2016) gewann 17 Auszeichnungen und war Finalistin für den besten Dokumentarfilm bei den European Film Awards 2017. Pepi Fandango ist ihr zweiter langer Dokumentarfilm. Sie begann diesen Film, als sie Peter Pérez über einen gemeinsamen Freund kennenlernte und – nach dem Anhören eines Flamenco-Liedes mit ihm – in seine faszinierende Geschichte hineingezogen wurde.
Pepi Fandango ist eine Reise tief in das verborgene Trauma von Peter Pérez (Pepi), einem HolocaustÜberlebenden, der nach Südspanien reisen möchte, um sich dem Schmerz der Vergangenheit zu stellen. Es ist auch eine Dokumentation über die Freundschaft zwischen zwei alten Männern aus Wien und die Musik, die ihre Reise begleitet.
Als Kind wurde Pepi im Konzentrationslager Rivesaltes von seinen Eltern getrennt. Nun, mit Mitte 80, kämpft Pepi immer noch mit seinem Trauma aus dem Lager.
Nach langer, von Gesprächen und Streitigkeiten geprägter Reise erreichen die beiden Freunde Paterna de Rivera in Spanien, wo Pepi seit Jahren Trost sucht. Während sich das Dorf auf sein jährliches Fest vorbereitet, versucht Pepi, seine eigene Version eines Fandango, eines spanischen Singtanzes, zu schreiben. Für ihn ist Fandango der Anstoß, um sich mit all den schrecklichen Erinnerungen auseinanderzusetzen, die ihn verfolgen – denn im Lager hörte er damals die Lieder der Rom*nja-Kinder Doch er erkennt, dass die Musik allein nicht ausreicht: Er muss zum Lagerplatz in Rivesaltes zurückkehren, um sich seinem Trauma zu stellen.
Wie würdest du in deinen Worten beschreiben, worum es in dem Film geht?
Lucija Stojević: Es ist ein Film über das Leben mit Schmerz, das Leben mit Trauma, das Leben mit etwas, das man nicht lösen kann. Aber es ist auch ein Film über Freundschaft und die kleinen Brücken, die wir zu bauen versuchen. Brücken, die wir manchmal nicht einmal sehen, obwohl sie direkt vor uns auf dem Weg liegen. Und dann gibt es diese kleinen Momente der Verbindung, die uns weitermachen lassen.
Es ist in vielerlei Hinsicht ein sehr subtiler Film, weil er auch das Thema der Männerfreundschaft behandelt – eine Art der Freundschaft, die sich nur diskret zeigt. Was ist Fandango überhaupt?
Fandango ist eine Art Flamenco- Ballade. Innerhalb des Flamenco gibt es viele verschiedene Stile und der Fandango ist einer der grundlegendsten, ursprünglichsten. Es geht darin um pure Ausdruckskraft ähnlich wie im Blues. Er erlaubt den Ausdruck einer einfachen Emotion in einem Viertakt-Rhythmus.
An einer Stelle im Film sagt Pepi: „Ich muss meinen Fandango aufschreiben. Es ist das Trägermaterial, der Katalysator.“
Sein Fandango verbindet ihn mit der Geschichte. Es transportiert ihn. Die Musik ist eine Möglichkeit, die transformative Kraft des Ausdrucks zu artikulieren.
Der Film wirkt fast so, als wäre er in einem einzigen Dreh entstanden.
Der Film wurde über einen Zeitraum von zehn Jahren gedreht. Es ist ein sehr vielschichtiger Film. Die Strukturierung war ein Albtraum, aber es ist einer dieser Herzensfilme, die einem wirklich die Möglichkeit geben, in die Tiefe zu gehen. Natürlich gab es viele Pausen und andere Projekte dazwischen, aber bei jeder Gelegenheit, die sich mir bot, sprach ich mit Pepi. Wir machten zunächst ein paar Recherchedrehs. Als erstes ging es mir darum, seine Geschichte zu verstehen. Anschließend galt es, zu verstehen, was wir aus heutiger Perspektive daraus ziehen können. Achtundachtzig Jahre – rückblickend haben sich viele Dinge in dieser Zeit entwickelt. Besonders in den ersten sieben Jahren seines Lebens geschah so vieles von dem, was ein Trauma in ihm auslöste und den Rest seines späteren Lebens beeinflusste. Ich versuche mit meiner Arbeit, die großen Fragen des Lebens zu betrachten. Was passiert, wenn man eine derartige Überlebensgeschichte sein Leben lang mit sich herum trägt? Wie geht man damit um, dass Europa Geschichten wie diese vergisst? Und was bedeutet die Musik? Welche Rolle spielt sie in dieser Geschichte, nicht nur in diesem Moment, sondern auch im Laufe eines Lebens? Mir wurde klar, dass es kein Ende dieser Geschichte geben wird. Wenn man einen Film über Trauma macht, kann das sehr kompliziert sein, weil es keinen Weg gibt, ein Ende zu finden.
Dieses ausweglose Kreisen hast du perfekt mit dem Bild eines Karussells eingefangen, das sich immer wieder im Film zeigt: Man kommt immer wieder an den gleichen Punkt zurück – egal, wie sehr man versucht, voranzukommen.
Während der Arbeit an diesem Film begegneten wir immer wieder Bildern und Kulissen, die als Symbol für Pepis Erfahrungen dienten. Pepi lebt in der Nähe des Prater- Vergnügungsparks in Wien. In dem Film geht es auch um seine verlorene Kindheit. Er passiert also ständig diesen Ort, an dem Kinder vor Freude schreien, aber es ist etwas, das ihm so fern ist. Ähnliches beobachteten wir in Paterna, als man dort das jährliche Stadtfest in einem spanischen Vergnügungspark am Stadtrand vorbereitete. Dort tauchten all die Symbole auf, die im Laufe des Films ihre Bedeutung verändern, je mehr man über das Leben unseres Protagonisten erfährt.
Zu Beginn des Films sehen wir historisches Filmmaterial. Woher stammen diese Aufnahmen?
Ja, dass war ein grosses Thema. Wie gehen wir mit den Teilen des Films um, in denen es um die Erinnerung geht. Pepi war ein Kind, als die Geschichte seiner Internierung begann. Er spricht selbst darüber und fragt: Woran erinnert er sich tatsächlich? Was hat er sich gemerkt, weil ihm gesagt wurde, dass es passiert ist? Ich wollte die Flüchtigkeit des Gedächtnisses veranschaulichen und zeigen, wie eine Erzählung zum Teil unserer eigenen Geschichte werden kann. Pepi erinnert sich daran, wie er die Hand von jemandem hielt, als sie das Lager betraten, aber er erinnert sich nicht daran, warum er von seiner Mutter getrennt wurde. Wir fragten uns, wie wir diese Art des assoziativen Gedächtnisses, das subjektive Gedächtnis eines Kindes aus jener Zeit, widerspiegeln könnten. Auf unserer Suche stießen wir auf einen Filmemacher aus der Slowakei, Marek Šulík, der einen Aufruf startete: Er sagte, er brauche Aufnahmen aus Archiven von Familien aus dieser Zeit. Und tatsächlich gab es um die fünfzig Familien, die bereit waren, ihm ihr gesamtes Familienarchiv zur Digitalisierung zur Verfügung zu stellen. Er besitzt nun also dieses unglaubliche Archiv, das vom Anfang des letzten Jahrhunderts bis in die 70er- Jahre reicht, alles originalgetreu mit Super-8-Kameras aufgenommen. Als wir es sahen, fanden wir, dass es sehr gut widerspiegeln würde, wonach wir suchten. Es ermöglichte uns, Material zu visualisieren und mit dem arbeiten zu können, was Pepi uns gab.
Die Musik spielt eine sehr wichtige Rolle in diesem Film. Hattest du eine Vorstellung davon, welche Rolle die Musik im Film spielen sollte? Oder wie kam es dazu?
Die Musik spielt natürlich eine entscheidende Rolle. Sie ist der Katalysator für den gesamten Film. Dieser Moment im Lager mit den Kindern, die vor Schmerz nach ihren Müttern rufen, ist der Moment, der den Film eröffnet; der Moment, der uns auf den Weg der gesamten Erzählung bringt. Während der intensiven Zusammenarbeit mit Pepi konnten wir sehen, was die Musik mit ihm macht, wenn ihm jemand etwas vorsingt. Man konnte an seinem Gesicht all seine Emotionen ablesen: Schmerz, aber auch Erleichterung. Er fühlte alles auf einmal und kam dann wieder bei Null an, wie auf einem Karussell. Und obwohl er diese vielen großartigen, unglaublichen Freunde hat, die für ihn singen, erreichte er nie wirklich die Musik, die er in seinem Kopf hörte. Es geht um das Bedürfnis, etwas zu singen, weil man hungrig ist, weil man einen Moment hat, in dem man seine Mutter vermisst und sie nicht da ist. Es gibt Szenen im Film, in denen Menschen um Pepi herum singen, um ihn auf irgendeine Weise zu erfreuen, weil sie seine Geschichte kennen und versuchen, ihm zu helfen, aber es funktioniert nie wirklich. Bis plötzlich Pepis Freund Alfred in Erscheinung tritt, der ihm etwas auf der Gitarre vorspielt. Er spielt nicht unglaublich gut, aber es ist eine unvollkommene Art, die in Pepi etwas auslöst. Seine Musik ist zwar nicht das, wonach er wirklich sucht, aber sie dringt zu ihm durch.
Pepi sagt, dass es etwas gibt, das noch wichtiger ist als Freiheit – und das ist Hoffnung. Siehst du das auch so?
Ich kann bis zu einem gewissen Grad verstehen, was er meint, denn selbst, wenn man jemandem die Freiheit nimmt, kann man ihm nicht die Fähigkeit nehmen, nach etwas zu streben, zu träumen, zu hoffen. Aber ehrlich gesagt denke ich, dass das etwas ist, das nur er beantworten kann ... Vielleicht müssen Sie ihn selbst fragen, vielleicht bei der Vorführung in Berlin.