Ausnahmsweise dürfen wir im ACUD Kino das Licht im Kinosaal anmachen. Am zweiten Dokumentale Wochenende erzählen uns dort Meritxell Campos Olivé und Dieter Meier, die Regisseurin und der Produzent des Films Surfing Einstein, mehr über den Dokumentarfilm.
Der Film begleitet eine Gruppe von Physiker*innen in ihrem Alltag im Physikinstitut der Sapienza Universität in Rom und dem Virgo Research Center in der Nähe von Pisa. 100 Jahre nachdem Albert Einstein die Gravitationswellen vorhersagte, gelingt es der Gruppe, diesen Teil von Einsteins Relativitätstheorie zu bestätigen. Die Dokumentation taucht in die zwischenmenschlichen und emotionalen Elemente des Forschungsprojektes ein. Ihre Geschichte erzählen die Physiker*innen durch Tanz und ihre ganz individuelle Körpersprache.
Warum habt ihr euch dafür entschieden, die Physiker*innen ihre Geschichte über Tanzelemente erzählen zu lassen?
Dieter Meier: Ich denke, gerade deshalb, weil noch niemand so etwas gemacht hat. Das war fast wie ein Zauberzustand, den Meritxell da erschaffen hat. Ich glaube, dass dieser Film sehr einmalig ist. Es ist eine neue Welt, die da aufgeht. Es hat noch niemand mit dieser Konsequenz diese doch sehr eigenständigen Sachen aufgeführt und das führt zu einer besonderen Auseinandersetzung.
Meritxell Campos Olivé: Ich würde den Film als eine Mischung aus Dokumentar- und Kunstfilm bezeichnen. Denn der Film verbindet Wissenschaft und Tanz miteinander. Die Gruppe der 19 Physiker, die in Italien nach den Gravitationswellen gesucht hat, und sie letztendlich auch 100 Jahre nach Einsteins Vorhersage entdeckt haben, waren im Jahr 2015 in großer Euphorie. Sie haben einen Nobelpreis erhalten. Sie riefen mich als Choreografin mit der Frage an, ob ich ein Tanztheaterstück kreieren möchte, das diese Gravitationswellen erklärt. Ich fand es total interessant. Ich habe keine Ahnung von Physik. Aber ich dachte mir: das würde ich mir gerne von nahem anschauen. Also bin ich nach Rom geflogen und habe Interviews mit der Gruppe geführt. Nach ein paar Tagen habe ich gemerkt, dass sie die wahren Protagonisten sind; viel mehr als die Gravitationswellen, die sie erforschen. Weil sie über 100 Jahre lang durch alle menschlichen Gefühle gereist sind. Für mich repräsentieren sie ganz viele Werte, die in unserer heutigen Gesellschaft immer geringer und seltener werden. Wie zum Beispiel die Kraft der Gruppe, das Kollektiv, die Gemeinde, die Großzügigkeit, die Solidarität zwischen den Generationen, indem sie sich das Wissen weitergegeben haben. Sie stellen sich nicht als einzige Individuen in den Vordergrund; die Community ist das Wichtigste für sie. Das fand ich irgendwie ein sehr schönes Beispiel, um das in unserer heutigen Zeit zu zeigen: So geht es auch und vielleicht ist es sogar schöner so.
Die Physiker hatten vorher keine Tanzerfahrung. Wie habt ihr es geschafft, ihre Gefühle dennoch in Tanz zu übersetzen?
Meritxell Campos Olivé: Ja, das ist richtig, die Physiker hatten vorher keine Tanzerfahrung. Die Gruppe unserer Protagonisten ist eine sehr heterogene Gruppe, viele unterschiedliche Altersgruppen und Nationalitäten sind vertreten. Aber viele von ihnen haben uns gesagt, dass sie noch nie getanzt haben, nicht mal in der Disko. Ihr ganzes Leben war der Physik gewidmet. Entweder saßen sie vor dem Computer an einer Datenanalyse oder sie haben an irgendwelchen komplizierten Maschinen gebastelt. Und es war eine große Überraschung, als ich ihnen dann vorgeschlagen habe: Wir könnten eine Doku machen, in der sie ihre Erfahrungen erzählen, aber nicht konventionell mit der Sprache, sondern mit ihrem Körper und mit Bewegung. Und die waren sofort am Start. Das war ein Jubel und ich war sehr überrascht.
Wie genau hast du sie choreografisch angeleitet?
Meritxell Campos Olivé: Bei jedem einzelnen haben wir uns eine konkrete Performance überlegt, die spezifisch zu den Menschen passt. Und dann hatte ich kleine Ansätze, Fragen gestellt, um Material von jeder von diesen Personen zu bekommen. Und das einzige, was ich danach gemacht habe, ist, dieses Material gemeinsam mit ihnen zu polieren, etwas sauber zu machen. Einige Bewegungen haben wir weggelassen, andere haben wir weiterentwickelt. Sowohl einzeln als auch in der Gruppe haben wir immer diese Arbeit gemacht. Ich möchte sagen, und das ist mir wichtig: Die Choreografien kommen nicht von mir. Ich habe mich nicht nach vorne gestellt und ihnen Schritte beigebracht, sondern sie sind die eigenen Choreografen, von dem, was sie in dem Film tanzen.
Was hat euch in der Zusammenarbeit mit den Physikern am meisten überrascht?
Meritxell Campos Olivé: Was mich überrascht und gleichzeitig gefreut hat, war, mit welcher Bescheidenheit sie an die Sache herangegangen sind und in keinster Weise gab es Menschen, die Angst hatten, sich lächerlich zu präsentieren, obwohl plötzlich aus Physikern Tänzern wurden. Da war so ein großes Vertrauen. Ich hab verstanden, dass ein Physiker ein besonderer Wissenschaftler ist. Weil er gleichzeitig hier auf der Erde ist, bei uns, in den kleinen Dingen und einen Blick nach oben hat, in das riesige Universum, was uns umgibt. Dieser Blick nach oben, glaube ich, relativiert ganz viel in deinem eigentlichen Leben, in deinem Alltag. Dann ist es vielleicht nicht so schlimm, wenn du dich blamierst. Oder wenn du da nicht perfekt da stehst, weil du die ganze Zeit das Gefühl hast, dass du eh ganz klein bist auf dieser Erde.
Meritxell Campos Olivé fragt Dieter Meier: Als du den Film zum ersten Mal gesehen hast, warst du da auch beeindruckt von den Performances, der Nicht-Tänzer, die trotzdem als Tänzer aufgetreten sind.
Dieter Meier: Das war etwas, was ich mir nie vorstellen konnte. Das hatte eine ganz eigene Dynamik. Am Anfang war das für sie sehr eigenartig und auch irgendwie verrückt, aber das hat sich dann so verändert und entwickelt. Es ist unglaublich, wie sehr sie sich engagiert haben.
Was ist aus eurer Sicht die Kraft daran, künstlerische und dokumentarische Elemente zu mischen?
Meritxell Campos Olivé: Eine Dokumentation hat direkt oder indirekt immer irgendetwas mit Kunst zu tun. Wir haben es jetzt durch den Tanz als Kunstform sehr explizit gezeigt. Aber wenn ein Film entsteht, dann ist immer eine künstlerische Komponente dabei.
Mit wissenschaftlicher Arbeit assoziiert man nicht unbedingt Gefühle. Euer Film dreht sich sehr darum, warum ist euch dieser Teil davon so wichtig?
Meritxell Campos Olivé: In meiner Erfahrung mit den Physiker*innen war es so, dass wenn eine Sache dabei war, dann waren es Gefühle. Wir haben ein Bild von Wissenschaftler*innen als Nerds, die immer nur auf ihren Computer starren, aber das war ganz und gar nicht meine Erfahrung mit dieser Gruppe. Allein als sie mir erzählt haben, durch welche Achterbahn der Gefühle sie gemeinsam durchgegangen sind. Denn manchmal dachten sie: Endlich, die Gravitationswelle ist da und dann war es doch ein Fake. Und dann die Enttäuschung. Wieder Hoffnung holen. Diese Ausdauer ist beeindruckend.
Immer wieder stolpern, immer wieder Fehler machen. Und das bis zur Entdeckung, wo dann endlich die wahre Euphorie und die wahnsinnige Freude ausgebrochen ist. Sie sprechen davon immer noch mit Tränen in den Augen. Ich kann wirklich sagen, wenn diese Menschen aus etwas bestehen, dann sind es Gefühle.
Dieter Meier: Man kann eigentlich sagen: Werdet wie die Kinder. Und das hat nichts miserables an sich, sondern ein sich Zurückfallen lassen in eine Situation, die man so gar nicht gekannt hat und damit ist eben auch gesagt, dass die verschiedensten Leute, die so intensiv gearbeitet haben, das Glück hatten, so zu werden wie die Kinder. Und auch den Mut. Nicht sofort aufzugeben und zu denken, dass das alles Blödsinn oder nur ein Witz sei. Sondern es ist ein Sich finden in sich selbst, in dieser ganzen Geschichte.
Was wünscht ihr euch, dass das Publikum aus eurem Film mitnimmt?
Dieter Meier: Ich wünsche mir, dass die Leute, die sich den Film anschauen, sich fallen lassen in diese einzigartige Geschichte und in diese besondere Erzählform. Es kann ja auch sein, dass es den Leuten nicht gefällt und sie das nicht weiter sehen wollen, dann ist das so.
Meritxell Campos Olivé: Ich würde mir wünschen, dass eben diese Emotionen, die diese Gruppe durchlebt hat, transportiert werden. Dass die Menschen das aufnehmen und sich mit diesen Gefühlen identifizieren, denn das ist das einzige, was wirklich international ist. Wir fühlen alle in alle Richtungen und ich wünsche mir, dass das verstanden und mitgefühlt wird.