© Moïse Youmba
Ein Interview mit Hendrik Bolz, Host des "Springerstiefel Podcasts" über Rechtsextremismus in den 90ern und heute. Was sich verändert hat, was sich nicht verändert hat und warum wir hoffnungsvoll sein sollten.
Wie ist die Idee für die erste Staffel des Podcasts entstanden und warum habt ihr euch genau für dieses Thema entschieden?
Mit Ostdeutschland und ostdeutscher Geschichte beschäftige ich mich schon lange – genauso wie mit Gewalt und Rechtsextremismus. In meinem Buch “Nullerjahre” habe ich auch schon über diese Themen geschrieben.
Der Diskurs in Deutschland nahm 2019 mit dem #baseballschlägerjahre von Christian Bangel Fahrt auf. Über ACB Stories, die Produktionsfirma des Podcasts, kam dann die Idee eines Doku-Podcasts zustande. Als wir über die erste Staffel sprachen, in der es um die 90er gehen sollte, wurde uns klar, dass die Geschichten Betroffener rechter Gewalt noch immer völlig unterrepräsentiert sind. Im Büro von ACB Stories saß Don Pablo Mulemba, der aus Eberswalde kommt und dessen Vater Vertragsarbeiter war und Amadeu Antonio kannte. So haben wir uns dann zusammengefunden.
In der zweiten Staffel stellen wir uns die Frage, wie die Situation heute aussieht. In den letzten Jahren traten rechtsextreme Jugendliche immer wieder offen auf – etwa an der Schule in Burg, wo Lehrer*innen nach rechtsextremen Vorfällen einen Brandbrief verfassten. Solche Beispiele gibt es reichlich. Gerade eben sprachen wir noch über die 90er und die prägende rechte Jugendkultur jener Zeit, und heute hat man das Gefühl, dass ein ähnliches Momentum wieder entsteht.
Wie ist der Fokus auf den Osten entstanden?
Wir sind beide Ostdeutsche, in der Region aufgewachsen und fest verwurzelt. Die Geschichte des Ostens ist besonders und Rechtsextremismus hat dort eine andere Dimension als im Westen. Wir haben uns bemüht, darauf einen sehr differenzierten Blick zu haben. Denn es ist eine falsche Entlastungserzählung Rechtsextremismus alleine zu einem ostdeutschen Problem zu erklären. Rechtsextremismus gibt und gab es lange auch schon im Westen.
Hast du durch den sehr persönlichen, teils biografischen Ansatz, den ihr im Podcast gewählt habt, dein eigenes Aufwachsen im Osten nocheinmal anders reflektiert?
Das habe ich in den letzten Jahren, vor allem durch mein Buch und eine lange Therapie, bereits intensiv verarbeitet. Doch während der Arbeit am Podcast wurde mir – und das ist auf eine gewisse Weise erschreckend – bewusst, dass selbst jemand wie ich, der sich viel mit dem Thema auseinandersetzt und viele Gespräche darüber führt, immer wieder merkt, wie wenig man auf dem Schirm hat, was es eigentlich für nicht-weiße Menschen bedeutet, sich in Ostdeutschland zu bewegen. Das zeigt, dass das Thema nach wie vor auf eine viel größere Bühne gehört, denn den allerwenigsten ist das Ausmaß bekannt.
Was waren die Momente, in denen dir bewusst wurde, dass du das Ausmaß der Gewalt, die marginalisierte Menschen in Ostdeutschland erleben, nicht ausreichend wahrgenommen hast?
In der ersten Staffel war es die Geschichte von Pablo und seiner Familie, die mich besonders berührt hat. Zwar war mir das Thema bereits in den 90ern bekannt, doch erst durch den persönlichen Zugang wurde mir auf einer ganz anderen Ebene verständlich, was es tatsächlich bedeutet und welche Herausforderungen betroffene Familien und ihre Kinder erleben.
In der zweiten Staffel wurde mir durch Mai erneut bewusst, wie präsent diese Gewalt ist. Sie berichtete von Cottbus und den Nullerjahren, einer Zeit, in der ich eigentlich annahm, dass die Gewalt nachlässt. Damals dachte ich: „Neonazi sein ist ja jetzt gar nicht mehr cool.“ Doch wie viel bleibt trotzdem präsent? Ebenso erschütternd war es, von Ahmed zu hören, der erst vor wenigen Jahren nach Chemnitz gezogen ist und erzählt hat, dass er vom Busfahrer angeschnauzt und auf offener Straße zusammengeschlagen wurde. Solche Vorfälle klingen zunächst wie ein Skandal und doch erzählen die Betroffenen davon mit einer erstaunlichen Beiläufigkeit. Das zeigt, dass es sich leider um eine ganz schräge Form von Normalität handelt.
Warum habt ihr euch im Podcast für einen recht persönlichen Ansatz entschieden?
Man kann Themen technisch, differenziert und wissenschaftlich behandeln. Doch wenn Menschen von ihren persönlichen Erfahrungen berichten, erreicht das die Zuhörerinnen auf eine ganz andere Weise und erzeugt Empathie. Dadurch wird alles viel greifbarer. Das ist eine große Stärke dieses Podcast-Formats. Im besten Fall ermöglicht es den Zuhörer*innen einen vielseitigeren Blick auf die Welt zu entwickeln.
Ist es das, was ihr mit eurem Podcast hauptsächlich erreichen wollt - einen vielseitigen Blick auf die Welt aufzeigen?
Ja, genau. Es geht darum, dass die Menschen merken: “Schau mal hier, das haben andere Personen in Ostdeutschland erlebt”. Ein zentrales Ziel ist außerdem die Aufarbeitung der eigenen Geschichte. In der ersten Staffel habe ich mit jemandem gesprochen, der in den 90ern als Neonazi aktiv war. Solche Geschichten greifbar zu machen, ist wichtig, denn nur so wird deutlich, welche Person und welche Geschichte hinter den Ereignissen steckt. Es geht darum, aufzuzeigen, auf welchem Fundament diese Gewalt erwachsen konnte – die Nachwendezeit noch einmal zu erzählen – und den Menschen Wissen an die Hand zu geben, das sie nutzen können, wenn sie über den Osten sprechen, anstatt pauschal zu behaupten: „Die sind alle kaputt. Mauer wieder hoch und gut ist.“
Du hast erzählt, wie du fasziniert und eingeschüchtert gleichzeitig von den Neonazis warst, denen du in deiner Kindheit begegnet bist. Wie erinnerst du deine Wahrnehmung von ihnen? Wie hat sie sich im Laufe deines Aufwachsens verändert?
In den 90ern, als ich noch ein Kind war, war es in dem Plattenbauviertel, in dem ich lebte, ganz normal – ja, fast „cool“ – ein Neonazi zu sein. Das wollten wir in der Staffel deutlich machen: Es gab ein ganz bestimmtes Momentum und eine Normalität, die für ein Kind wie mich beinahe selbstverständlich schien. Neonazis waren für mich als Kind keine entfernten Monster, sondern das war alles sehr nah dran an meiner Lebensrealität.
In der Grundschule erfuhr ich von einem Vorfall, bei dem ein Schüler aus einer höheren Klasse krankenhausreif geprügelt wurde – durch Typen in Bomberjacke und mit Glatze –, und das, weil er eben anders aussah. Da wurde mir schnell klar, dass diese Menschen gruselig sind und ich ihr Verhalten nicht gut finde. Ideologisch interessierten sie mich deshalb nie. Vielmehr faszinierte mich die Umgebung, in der niemand richtig intervenierte, in der die BRD-Institutionen noch nicht etabliert waren und in der der Stärkere scheinbar immer Recht hatte. Ständig herrschte hier Stress, und die Neonazis zeigten niemals Angst – sie strahlten etwas aus, das mich als Kind fasziniert hat: „Wenn ich groß bin, will ich auch so stark und furchtlos sein.“ Gleichzeitig war es mir wichtig, im Podcast und im Buch zu verdeutlichen, dass unser Aufwachsen meine Generation geprägt hat. Bei uns war das Neonazi-Sein längst nicht mehr die angesagteste Jugendkultur – stattdessen rückte der Straßenrap in den Vordergrund, in dem sich ähnliche Elemente von „härter, stärker, krasser“ wiederfanden. Wie viel hat also von der Generation vorher auf uns abgefärbt?
Wie sehr spielt toxische Männlichkeit in die Themen, die du gerade angesprochen hast, mit rein?
Das spielt absolut eine Rolle. Für mich gab es so gut wie keine alternative Vorstellung von Männlichkeit. Ein Mann, der hat keine Angst, der heult nicht. Auch der Gebrauch von „schwul“ als Schimpfwort war normal – nicht nur im ostdeutschen Plattenbau, sondern weit darüber hinaus. Diese toxische Männlichkeit wirkt sich sogar auf Mädchen und Frauen in meinem Umfeld aus. Denen wurde es noch mehr erlaubt, aber die sollten schon auch nicht rumheulen und auch zeigen, dass sie krass sind.
Hast du für dich durch den Podcast eine Antwort auf die Frage, ob die 90er zurück sind, gefunden?
Diese Frage ist natürlich provokant. Klar, die 90er sind nicht eins zu eins zurückgekehrt. Die enthemmte Straßengewalt, die es damals gab, die gibt es heute in der Form nicht mehr. Aber es gibt Aspekte, die an die 90er erinnern und Rechtsextremismus hat wieder ein starkes Momentum.
Wenn man beobachtet, wie Jugendliche, die sich rechts orientieren, mittlerweile wieder den Skinhead-Look mit Springerstiefeln, Bomberjacke und Glatze übernehmen, wird deutlich, dass eine gewisse Bezugnahme auf die 90er existiert. Das wurde uns von zahlreichen Stimmen aus dem Osten gespiegelt. Damit sich diese Dynamik nicht wie damals wiederholt, ist es wichtig, genau hinzuschauen und aus der Vergangenheit zu lernen. Gleichzeitig zeigt sich, dass es sich nicht um ein ausschließlich ostdeutsches Phänomen handelt. Ähnliche Entwicklungen beobachten wir in anderen Ländern – etwa im Zusammenhang mit der Wahl von Trump. Deshalb lohnt sich ein breiterer Blick. Viele Parallelen lassen sich zwischen den 90ern und der heutigen Zeit ziehen, wie wir in der zweiten Staffel herausgearbeitet haben – etwa, wie sehr Corona und andere Multikrisen das gesellschaftliche Klima beeinflussen. Diese Unsicherheiten betreffen nicht nur Erwachsene, sondern wirken sich auch auf Kinder aus und bieten Rechtsextremen immer wieder ein Einfallstor.
Was auch in Teilen wieder da ist, ist das es “cool” ist, rechts zu sein. Nicht nur normalisiert, sondern sogar cool. Wie kommen wir dagegen an?
Es gibt da kein Fingerschnipsen und dann ist alles wieder gut. Wir können dankbar sein für all die Leute, die sich vor Ort engagieren und das unter Bedingungen, die man sich hier bei Sonnenschein aus Berlin Mitte heraus kaum vorstellen kann. Menschen machen da wirklich wahnsinnig gute Arbeit. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass es viel Zeit braucht, externe Anreize, Gespräche, Filme – und dass es nicht hilfreich ist, Menschen einfach abzuschreiben. Natürlich muss sanktioniert werden, aber wir sollten versuchen, die Leute wieder zu erreichen. Man wird nicht alle erreichen, aber einige dann doch. Und damit ist schon viel geschafft.
Ich halte nicht viel davon zu sagen, dass jetzt alles ganz schlimm und immer schlimmer wird. Ich denke schon, dass wir das alle gemeinsam in der Hand haben.
Dass rechtsextreme Strukturen existieren, ist und sollte keine Überraschung sein. Hattest du trotzdem Momente während eurer Recherche, wo du das Gefühl hattest, doch noch einmal kurz überrascht zu sein?
Überraschend fand ich, dass es in Zittau mitten in der Altstadt eine rechtsextreme Einrichtung gibt, von der alle wissen. In den 90ern verfolgte die Politik den Ansatz, einen Verein zu gründen, um rechtsextreme Jugendliche zu „sammeln“ – man wollte wenigstens wissen, wo sie sich aufhielten, in der Hoffnung, sie über diesen Weg wieder ins gesellschaftliche Leben zu integrieren und vom Rechtsextremismus abzubringen. Dieser Ansatz hat jedoch nicht funktioniert. Seit den 90ern sind viele rechtsextreme Akteure fest in das Stadtleben eingebunden, das fand ich schon irritierend zu sehen.
Besonders in der zweiten Staffel wird sehr sichtbar, dass viel passiert. Ihr habt viele widerständige Personen im Osten getroffen. Kannst du dich an einzelne Momente erinnern, die dir Hoffnung gemacht haben?
Was mir Hoffnung gemacht hat, war das Gespräch mit Daniela, einer engagierten Sozialarbeiterin. Es ist wirklich beeindruckend, wie sehr sie sich damit beschäftigt und was sie alles an Medien konsumiert, um ihren Sohn, der selbst in der rechtsextremen Szene unterwegs ist, erreichen zu können. Menschen wie Daniela gibt es viele, und damit sind wir einen großen Schritt weiter als in den 90ern. Wir lernen ständig dazu und entwickeln immer bessere Konzepte.