Anna Ramskogler-Witt besucht BelDocs auf der Suche nach ausgezeichneten Filmen. Sie erlebt wunderbare Begegnungen mit Filmemacher*innen und Kolleg*innen, führt bereichernde Diskussionen und erfährt mehr über die bewegte Vergangenheit der Stadt.
Die Morgendämmerung taucht Berlin in ein sanftes Licht, als ich mich auf den Weg zum Flughafen mache. Die Müdigkeit hängt noch schwer in meinen Gliedern. Bereits am Gate wird mir klar, dass Belgrad in diesen Tagen eine Menge Besucher erwartet. Viele Kolleg*innen aus der Berliner Kreativszene haben sich wie ich schon früh auf den Weg zum „BelDocs“ und das „Mikser Festival“ (das Kunst, Architektur und Mode zelebriert) gemacht. Das übrige Publikum des Fliegers fällt ein bisschen aus dem üblichen Rahmen. Die halbe Kabine wird nämlich von Rammstein-Fans bevölkert – die Band spielt ausgerechnet an diesem Wochenende in der Hauptstadt Serbiens.
Im Festivalshuttle zum Hotel lerne ich Ibrahim Nash’at, den Regisseur des eindringlichen Films „Hollywood Gate“, kennen und Natalia Imaz, Vorstandsmitglied der Documentary Association of Europe. Sofort kreisen unsere Gespräche um Zeitpläne, Filmempfehlungen und die Vorfreude auf die bevorstehenden Diskussionen. Während wir durch die sozialistischen Bauten von Neu-Belgrad fahren, muss ich an die bewegte Vergangenheit der Stadt denken und die schwierige politische Situation, in der sich das Land aktuell befindet.
Wenn Geschichte allgegenwärtig ist
Nach meiner Ankunft laden mich Berliner Freunde, die in Belgrad ihre zweite Heimat gefunden haben, zum Mittagessen am Wasser ein. Ein Restaurant reiht sich dort an das nächste. Meine Freunde erklären, dass alle demselben Tycoon gehören. Wegen des Nieselregens sitzen wir drinnen und sprechen bei wummernder Musik über Filme und Architektur. Der Rückweg in die Innenstadt liefert die Illustration dessen, was wir eben besprochen hatten: die sterile neue Waterfront mit ihren Luxuswohnungen. Um sie zu errichten, wurden im Jahr 2016 quasi über Nacht zahllose alte Gebäude von Bulldozern niedergerissen. Zuvor beherbergten sie die Subkultur sowie Geflüchtetenunterkünfte.
Die Innenstadt hingegen spiegelt für mich nach wie vor die vielschichtige Geschichte Belgrads wider. Nach der Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich 1867 und dem Aufschwung als Metropole des Balkans sind zahlreiche klassizistische und Jugendstil-Häuser zu finden. Doch die vielen Bombardements während der Kriege haben Lücken in diese alte Architektur gerissen. Sie wurden von typischen Neubauten der sozialistischen Ära geschlossen.
Filme, die die Welt verändern
Nach dem Mittagessen beginnt das Filmprogramm im Haus der Jugend, einem dieser Gebäude. »My Stolen Planet« erzählt die sehr persönliche Geschichte einer iranischen Regisseurin, die in altem privaten Filmmaterial nach Zeugnissen vergangener Freiheit sucht. Besonders berührt mich ihr Einschulungsfoto. Auf ihm trägt sie ein schwarzes Kopftuch – mit jenem grimmigen Gesichtsausdruck, den ich auch von ähnlichen Fotos meiner iranischen Freundinnen kenne.
Der zweite Film des Abends trägt den Titel »The Neptune’s Tempest«. Er porträtiert eine kleine Mittelmeerinsel, die gegen Massentourismus kämpft. Dabei handelt es sich um eine universelle Geschichte, die sich gewiss auf viele Orte der Welt übertragen lässt. Ich freue mich, dass wir den Film im Rahmen der Dokumentale zeigen werden und dass Regisseurin Katarina Stankovic hierfür nach Berlin kommen wird.
Wieder draußen auf der Straße erschlagen mich die Schwüle und Lautstärke; direkt neben dem Kino wummert die Pre-Party zum Rammstein-Konzert. Die Bässe begleiten mich die nächsten Tage in den Schlaf.
Beim Feierabendbier am Dorcol Platz – dort findet auch das Miksler Festival statt – lerne ich eine Belgrader Psychologin kennen. In ihrem früheren Leben war sie Journalistin und überlebte nur durch Zufall den NATO-Bombenangriff 1999 auf das Hochhaus, in dem auch der nationale Fernsehsender untergebracht war. Die Kriege sind hier überall spürbar, nicht nur in den äußeren Merkmalen des Stadtbilds, sondern auch in unzähligen Geschichten der Menschen.
Zwischen Filmen und Menschen
Bei strömendem Regen beginnt mein zweiter Festivaltag mit Work-in-Development-Pitches. Filmemacher*innen und Produzent*innen stellen ihre Filmprojekte vor, um potenzielle Partner und Finanzierungsquellen zu finden. Für mich als Festivalvertreter*in eignet es sich gut, ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche Geschichten und Themen vor der Vollendung stehen und welche Projekte ich vielleicht in zwei, drei Jahren auf der Dokumentale zeigen kann.
Direkt im Anschluss hostet die Documentary Association of Europe (DAE) ein Panel, auf dem ich, gemeinsam mit Kolleg*innen, über die emotionalen Kosten unseres Berufs zu sprechen. Mit mir am Panel sitzen Ibrahim Nash’at, Regisseur des wichtigen Films »Hollywoodgate«, und Anna Dziapshipa, eine georgische Regisseurin, die gegen das Foreign Agent Gesetz in ihrem Heimatland protestiert. Auch wenn wir viele Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten mögen, sind wir uns doch einig, dass die permanente Beschäftigung mit Unrecht Spuren hinterlässt und Mental Health in unserer Branche eine größere Rolle spielen sollte. Gleichzeitig eint die Hoffnung, dass unsere Filme womöglich doch mehr zu ändern vermögen, als wir heute glauben.
Am Nachmittag schaue ich mir »Le Reine« an. Es ist eine poetische 16mm-Dokumentation über einen britischen Nonkonformisten, der sich in Südfrankreich sein eigenes kleines Sanctuary errichtet hat. Danach eile ich zum von „BelDocs“ organisierten Abendessen. Diese kuratierten Treffen sind deshalb so wertvoll, weil sie die Gelegenheit eröffnen, sich mit Kolleginnen aus der ganzen Welt auszutauschen und neue Kooperationen anzustoßen. Ich habe das Glück, ein sehr langes, intensives Gespräch mit Kolleginnen aus Finnland, Dänemark und Bosnien zu führen. Im Mittelpunkt stehen jene Herausforderungen, die unsere von Krisen heimgesuchte Zeit für unsere Festivals mit sich bringt.
Auf dem Weg ins Hotel sind die Straßen von Rammstein-Fans gefüllt. Wieder schlafe ich zum wummernden Bass ein.
Belgrad im Sonnenschein
Mein letzter Festivaltag bricht an. Ich beginne meinen Tag im strahlenden Sonnenschein auf dem „Mikser Festival“ am Dorcol Platz. Während draußen ein Poetry Slam stattfindet, spricht drinnen einer der Architekten des Holzmarkts. Er erzählt von der Idee und Vision des Ortes. Der Dorcol Platz - ein Schwesterort des Holzmarkts - ist eine kulturelle Oase. Von Filmen, Konzerten und Ausstellungen bis hin zu Technoballett wird dort ein vielfältiges Programm geboten.
Am Nachmittag schaue ich eine beeindruckende Kurzfilmkombination und lerne die Macher hinter »Total Resistance« kennen. Ihre Ausführungen – wie etwa ziviler Ungehorsam und dissidieren als die wichtigste Mittel zur Sicherung von Demokratie – wandern den restlichen Tag durch meinen Kopf. Dieser kritischen Auseinandersetzung folgt mit »TeraForma« ein philosophischer Essay über unsere bewussten Eingriffe in die Natur sowie ein Q&A mit dem beeindruckenden italienischen Filmemacher.
Da mein Flieger am nächsten Tag frühmorgens Belgrad verlässt, beschließe ich, früh zu Bett zu gehen. Noch auf der Hinfahrt im Shuttle hatten ich mit Ibrahim und Natalia gescherzt, ob wir nicht einfach durchfeiern sollten. Als jedoch mein Wecker um drei Uhr morgens klingelt, bin ich froh, wenigstens einige Stunden Schlaf bekommen zu haben. Wieder sind es die wummernden Bässe aus der Innenstadt, die mich als erstes begrüßen.
Im Flieger zurück nach Berlin denke ich über Belgrad und „BelDocs“ nach – und freue mich noch mehr auf die Dokumentale. Gemeinsam mit „BelDocs“ werden wir ausgewählte Filme aus dem Balkan nach Berlin bringen und dann gemeinsam mit unserem Publikum über Gentrifizierung, Sanctuaries und Subkultur philosophieren.